30. Juni

Rätselhafte Hepatitis-Fälle bei Kindern: Was aktuell diskutiert wird

Köln, 30. Juni 2022. [Informationsstand 31.5.2022] Im April diesen Jahres gab es erste Berichte über rätselhafte akute Leberentzündungen bei Kindern unter 16 Jahren; die Mehrzahl der Kinder war deutlich jünger als fünf Jahre. Bis zum 26. Mai lagen der Weltgesundheitsorganisation 650 wahrscheinliche Fallberichte aus 33 Ländern in fünf WHO-Regionen vor, in Europa berichtete die EU-Behörde ECDC über 125 Fälle bis zum 20. Mai. Einige dieser Leberentzündungen verliefen so schwer, dass Transplantationen notwendig wurden. Sechs der 125 betroffenen Kinder in Europa mussten transplantiert werden. Aus einigen Ländern wie den USA, den Philippinen und dem Gaza wurde über einzelne Todesfälle berichtet.

Die Ursachen dieser Krankheitsfälle sind momentan noch nicht bekannt. Was wir bereits wissen, was es NICHT ist:

  • Es ist keine Infektion mit den bekannten Hepatitisviren A bis E. Diese wurden durch Laboruntersuchungen ausgeschlossen.
  • Es ist kein Impfschaden durch neue COVID-19-Impfstoffe. Die große Mehrzahl der betroffenen Kinder war unter fünf Jahre alt und daher noch nicht geimpft.

Mehrere Faktoren werden derzeit diskutiert, wie z.B. Infektionen mit Adenoviren, die normalerweise nur zu Erkältungssymptomen oder Übelkeit führen, aber in diesem Fall möglicherweise ungewöhnlich schwer verlaufen.

Bei über der Hälfte der betroffenen Kinder wurden Adenovirus-Infektionen festgestellt. Vorherrschend war dabei das Adenovirus Typ 41, welches bislang eher für milde Magen-
Darm-Infektionen bekannt ist. Dass Adenoviren überhaupt zu Hepatitis-Fällen führen, ist eher ungewöhnlich und wurde bislang nur bei Menschen mit Immunsuppression gesehen.
Ob das Immunsystem der Kinder aufgrund der Lockdowns in der Pandemie generell ungeübter ist und daher nun infektanfälliger sein könnte, ist eine Hypothese. Ebenfalls diskutiert wird auch die Frage, ob gleichzeitige oder vergangene Infektionen mit SARS-CoV-2 am Krankheitsgeschehen beteiligt sein könnten. Nur 10 bis 15% der Kinder hatte einen positiven PCR-Test auf das Coronavirus, allerdings wurde meist kein Antikörpertest gemacht.

Uneinheitliche Datenlage: Häufung in einigen Ländern, in anderen nicht

Fachverbände sind sich noch nicht einig, ob es sich hier tatsächlich um eine neue Erkrankungsform handelt. Zudem sind die Auffälligkeiten noch nicht flächendeckend. Das ERN-RARE LIVER führte eine Umfrage bei 34 Leberzentren für Kinder in 22 EU-Ländern und Israel durch. Den Antworten der dort tätigen Ärzte zufolge wurde bislang keine alarmierende Häufung schwerer Hepatitis-Erkrankungen bei Kindern gesehen, wie sie in Großbritannien und anderen Ländern beobachtet wurde. Auch der Anteil von Infektionen mit Adenoviren war demnach bei Fällen von akutem Leberversagen laut der Umfrage nicht häufiger als bisher. Einschränkend muss hier gesagt werden, dass dies auf Meinungsäußerungen und Beobachtungen von Klinikärzten basierte.
Am 24. Mai veranstaltete der europäische Hepatologenverband EASL eine Online-Expertendiskussion zum Thema, welche live im Internet verfolgt werden konnte. Auch die Ergebnisse der Umfrage des ERN-RARE LIVER wurden dort besprochen und mit den bisherigen epidemiologischen Fallmeldungen abgeglichen.

Prof. Stefan Zeuzem, Frankfurt, und Prof. Alexsander Krag, Dänemark (Vizesekretär des EASL), leiteten die Diskussion und stellten die Frage: „Ist das wirklich ein neues Problem?“ Die Antwort lautete recht deutlich „ja“. Philippa Easterbrook (WHO) und Dr. Erika Duffel (ECDC) äußerten Zurückhaltung gegenüber den Umfrageergebnissen des ERN-RARE LIVER und stellten dem Daten aus anderen Ländern gegenüber, in denen es doch eine erkennbare Häufung gegeben habe. „Eine Rückfrage bei acht europäischen Ländern einschließlich UK zeigte in der Hälfte der Fälle einen Anstieg“, erklärte Dr. Duffel. Häufungen fanden sich u.a. in Italien, Spanien, Portugal, Schweden und Dänemark. Philippa Easterbrook ergänzte, dass bisher 13 Länder mehr als fünf Fälle gemeldet hätten, andere wiederum sehr niedrige Zahlen.

Ob Adenoviren tatsächlich die Ursache der z.T. schweren Hepatitisfälle bei Kindern sind, ist noch nicht abschließend geklärt. Dr. Duffel erklärte, dass etwa 61% der betroffenen Kinder einen positiven Test auf Adenoviren gehabt hätten. In Großbritannien sei der Anteil noch höher gewesen, insbesondere bei denjenigen Kindern, welche transplantiert werden mussten. Die Kinderärztin Dr. Hermien Hartog, welche zwei Fälle an ihrer Klinik in Birmingham, UK, vorstellte, sagte, dass die Hypothese des Adenovirus momentan die vorherrschende sei. Denkbar sei eine weitere Verbreitung von Adenovirus-Infektionen, welche ggf. auf eine erhöhte Infektanfälligkeit bei Kindern stieße. Andere Ursachen seien jedoch nicht auszuschließen. Infektionen mit Erregern wie dem Cytomegalievirus und Herpes-simplex-Viren sollten ebenso untersucht und ausgeschlossen werden wie Hepatitis A bis E, auf welche bereits untersucht wurde.

Gegen einen neuartigen, für die Leber gefährlichen Erreger spricht, dass die Hepatitis-Fälle sporadisch auftraten und es in der Regel keine Häufung innerhalb der gleichen Familien gab.
Ebenso wenig ist auszuschließen, dass die Hepatitis-Fälle auf eine oder mehrere andere, derzeit noch nicht bekannte Ursachen zurückgehen. Ein anderer, noch unbekannter Erreger ist ebenso denkbar wie toxische oder immunologische Faktoren, möglicherweise auch ein Zusammenspiel mehrerer Ursachen.

Bislang wurden alle Verdachtsfälle bei kleinen Kindern und höchstens bis zu 16-Jährigen beobachtet. Bei Erwachsenen wurden bislang keine gehäuften Fälle akuter Hepatitis festgestellt.
Prof. Stefan Zeuzem, Frankfurt, welcher die Expertendiskussion leitete, schlug dennoch vor, weiterhin auch bei Erwachsenen nach ähnlichen Fällen Ausschau zu halten. Wenn junge Erwachsene mit schwerer akuter Hepatitis in die Klinik kämen, ginge man oft schnell von Alkohol- oder Drogenvergiftungen aus, welche in dieser Altersklasse gehäuft auftreten. Es sollte sichergestellt werden, dass hier nicht vielleicht doch auch Fälle der neuartigen Erkrankung übersehen würden.

Der vorläufige Konsens der EASL-Paneldiskussion: Auch wenn die Häufung dieser Fälle bislang nicht in allen Ländern beobachtet wurde, gibt es aus mehreren Ländern ein deutliches Sig­nal. Die bis Ende Mai gemeldete Zahl von weltweit 650 Fällen ist aktuell noch recht selten, auch wenn diese Fälle aufgrund ihrer Schwere ernst genommen werden sollten.

Daher müssen Eltern sich jetzt nicht ohne Anlass Sorge um ihre Kinder machen. Sollten jedoch Anzeichen einer Lebererkrankung auftreten, wie z.B. erhöhte Leberwerte oder eine Gelbfärbung von Haut und Augen, sollte zügig fachärztlicher Rat eingeholt werden.

Ausblick

Gesundheitsbehörden und Fachverbände werden die Lage kontinuierlich weiterbeobachten und nach möglichen Ursachen und Zusammenhängen suchen. Ende Juni findet der europäische Leberkongress des EASL in London statt, auf dem weitere Daten vorgestellt werden sollen. Wir werden Ihnen in der kommenden „Lebenszeichen“-Ausgabe und auf unserer Webseite leberhilfe.org berichten, wenn es Neuigkeiten gibt.

Ingo van Thiel
Beratung: Prof. Dr. med. Stefan Zeuzem, Frankfurt a.M.

Zuerst veröffentlicht in: Lebenszeichen 2/2022, Juni 2022. Online hier veröffentlicht am 21.07.2022.

 

Quellen:
EASL: EASL Statement on cases of severe acute hepatitis in children of unknown causes. Thursday May 19, 2022. https://easl.eu/press-release/easl-statement-on-cases-of-severe-acute-hepatitis-in-children-of-unknown-causes/
ECDC: Epidemiological update: Hepatitis of unknown aetiology in children. Epidemiological update. 11 May 2022. https://www.ecdc.europa.eu/en/increase-severe-acute-hepatitis-cases-unknown-aetiology-children
WHO: Acute hepatitis of unknown aetiology in children – Multi-country. 27 May 2022. https://www.who.int/emergencies/disease-outbreak-news/item/DON-389
de Kleine R et al.: Severe acute hepatitis and acute liver failure of unknown origin in children: a questionnaire-based study within 34 paediatric liver centres in 22 European countries and Israel, April 2022. Eurosurveillance Volume 27, Issue 19, 12/May/2022. https://www.eurosurveillance.org/content/10.2807/1560-7917.ES.2022.27.19.2200369
EASL Live Panel Discussion: Unexplained acute Hepatitis in Chilrden. Tuesday, May 24, 2022 18:00 CEST. Online.

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