1. Februar

Ein Selbsterfahrungsbericht mit Hepatitis B

Es war einmal… möchte ich denken, aber mit meiner Notfallaufnahme ins Klinikum begann – mit 24 Jahren – das Ende eines vielversprechenden Anfangs. Ich war gerade dabei, meine Flügel auszubreiten, die Berufsausbildung, das Studienjahr im Ausland, die Familie hinter mir, die frischen Pläne vor mir, endlich frei sein, abheben, das, wovon ich träumte, wirklich leben.

Ich hatte Unterbauchschmerzen, wochenlang Blutungen aus Mund, Nase und Scheide. Ich lebte alleine, jung, weiblich, schön, kam gerade nach einem Jahr Studienaufenthalt aus den USA zurück. Mit einem Heizkissen von der Nachbarin lag ich in meiner Wohnung. Es war kalt. November.

Als Notfall stellte ich mich im Klinikum vor. Wegen der Unterbauchschmerzen geriet ich auf die Gynäkologie, Station 9a. Diagnose: „Aufnahme der Patientin unter dem Verdacht einer Extrauteringravidität; DD Colitis ulcerosa“, schreibt der Chefarzt in seinen Bericht. Am achten Tag eine Darmspiegelung. Die Patientin liegt auf der Seite. „Wir sagen es Ihnen gleich, es ist nicht angenehm“. Zu dritt halten sie mich fest. Blick durch das Darmrohr: rosa Gänge, bebend, rot geädert mit hellbraunen Brocken, weißlicher Hautwand. „Ja, das tut weh – an der Leber vorbei – es tut uns leid, aber wir müssen jetzt da um die Ecke.“ Tränen und Wut, ich zerbeiße meine Hand. Das Licht geht an. High von den Beruhigungsmitteln höre ich den Diagnostiker sagen: „Ein stinknormaler Dickdarm; dass Ihnen keiner mehr einredet, Sie hätten eine Colitis!“

Auf der Station überbringt mir der Arzt am folgenden Tag die „gute Nachricht“: „Ich beglückwünsche Sie, dass Sie keine Colitis haben. Die ganzen Darmsachen haben alle eine psychische Genese. Eine Bauchspiegelung wird meiner Ansicht nach auch kein Ergebnis mehr bringen. Das ist der Stress – nicht nur bei der Arbeit, sondern überall, die Aufregung, was im Kopf abläuft. Ich kann Ihnen ein Gespräch mit einem ausgebildeten Psychotherapeuten anbieten…“

Tränen rollen über meine Wangen. Ich bin völlig verzweifelt und meine Bettnachbarinnen verstehen die Welt nicht mehr.
Ich lande dort, wo man in ruhigen Dachzimmern wartet, Grünpflanzen und Teppichboden, die „psychosomatische Abteilung“. Eine nette Studentin mit Klemmbrett notiert alles, was als Kreuzchen in ihre Kästchen passt. Nur ein paar Fragen für die Studie, der Arzt hat heute keine Zeit, aber das nächste Mal. Seit wann geht es Ihnen denn so schlecht? Haben Sie da eine genaue Zahl? Monat und Jahr?

Von diesem Tag an werde ich sechs Monate lang in einer „Privatklinik für psychogene Störungen“ behandelt. Auch dort macht scheinbar niemand eine systematische Blutuntersuchung, die auf die akute Infektion mit dem Hepatitis-B-Virus weist. Ich leide noch immer an Blutungen und furchtbaren Bauchkrämpfen. Ich kann nichts essen. Mir ist schlecht.

Das liest sich in dem Bericht des leitenden Arztes so: „Diagnose: abdominelle Beschwerden, zeitweise Menorrhagien, anorektische Symptomatik, depressives Syndrom…“

Die ersten sechs Monate unentdeckter Hepatitis B sind vorbei. Jetzt habe ich eine chronische Erkrankung. Ich bin 1,76 groß und wiege 58 Kilo. Model-Maße. Ich werde bald 25 Jahre alt. Eine schöne Frau. Das Unwohlsein sieht man mir nicht an.

Ein Jahr später erkrankt mein Freund und ich werde routinemäßig untersucht.

HBs-Antigen positiv, HBe-Antigen positiv, Anti-HBc positiv. Eine Hepatitis-B-Infektion, die länger zurückliegt. Ohne Ikterus, ohne Diagnose, ohne Behandlung. Meine Hausärztin meldet die ansteckende Erkrankung nicht dem Gesundheitsamt. Sie habe mich „als nicht mehr akute Patientin“ kennengelernt. Für sie besteht kein Behandlungsbedarf. Die Leberwerte sind nur leicht erhöht. Das IGM liegt bei 1090.

Mit großer Kraftanstrengung sage ich mich von der langjährigen Hausärztin los – die übrigens als beliebte Internistin und Psychotherapeutin in meiner Stadt praktiziert – und wende mich an die ambulante „Lebersprechstunde“ im Klinikum. Nach vier Monaten bekomme ich einen Termin. In den fünf Stunden Wartezeit lerne ich andere Menschen kennen. Ich bin jetzt eine „Betroffene“, ich habe eine neue „peer-group“ im Getto des Krankenhauses. Es ist das gleiche Krankenhaus, in dem alles begann.

Der berühmte Professor H. führt mit eigenem Handstoß eine Leberblindpunktion durch. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihn dazu überreden konnte. Wollte ich doch in die besten Hände kommen. Nach zwei Stunden schickt man mich nach Hause, weil kein Ruheplatz vorgesehen war. Die Wunde entzündete sich. Ein kleiner Schönheitsfleck aus dem Hygieneparadies Deutschland.

„Beurteilung: Chronisch aktive Hepatitis B mit mittlerem Entzündungsgrad und Umbautendenz sowie HBc-Prädominanz.“

Im Sprechstundentermin – vier Monate später, fünf Stunden Wartezeit – sagt Professor H. in das fragende Gesicht einer jungen Frau die Worte: „Ich gebe Ihnen noch fünf Jahre!“

Dies schreibt er auch an meine Krankenkasse, die mich höher stuft, an andere Krankenkassen, Lebens- und Rentenversicherungen, deren Mitgliedschaft ich beantrage und die allesamt ablehnen. Damit ist meine wirtschaftliche und auch berufliche Absicherung vernichtet.

Professor H. führt eine Interferon- alfa-Therapie durch. Sechs Monate mit den bekannten Nebenwirkungen bringen nicht den erhofften Erfolg.

„Beurteilung: Die Hepatitis-B-Virusreplikation besteht somit fort. Da ein Transaminasenflare ausgeblieben ist, sind die Chancen einer Serokonversion nach Therapieende gering… Mit besten kollegialen Grüßen Prof. Dr. H.“

Mein Leben geht weiter. Ein kurzer, aber wichtiger Satz. Ein Freund sagt mir: „What’s wrong with five years?“
Ich jobbe in einem Behindertencafé für meinen Lebensunterhalt. Ich schließe mein Studium ab. Ich ziehe um. Ich habe einen neuen Freund.

Sie alle müssen sich impfen lassen. Wer von meiner Krankheit weiß, vermeidet die Berührung. Zungenküsse sind out. Kein Alkohol. Als ich mir das Rauchen abgewöhne, mache ich eine Therapie mit dem Ansatz der „anthroposophisch erweiterten Medizin“.

Hepatodoron, Solanum lycopersicum, Viscum album. Stationäre Aufnahme im Klinikum meiner neuen Heimatstadt. Zwei Etagen der Verlorenen und Vergessenen. Hier sitze ich auf dem sinkenden Schiff meiner Hoffnung. Um meinen Willen zu stärken (Leber = Willenskraft) bekomme ich die Aufgabe, jeden Tag um fünf Uhr das Fenster einmal zu öffnen und wieder zu schließen. Klinisch wird eine Leber-Laparoskopie gemacht. Im OP schreie ich vor Schmerzen, als ich das Gerät an meiner Bauchdecke spüre. Die Beruhigungsmittel haben nicht lange genug vorgehalten. Der Stationsarzt streicht über mein Haar und flüstert: „Halten Sie es aus, es ist gleich vorbei, wir wollen ihre Leber nicht noch mehr belasten!“ Der Einstich einer Braunüle entzündet sich. Kein Antibiotikum. Ich schwöre mir, dass dies die erste und letzte Laparoskopie meines Lebens gewesen ist. Malen und Heileurythmie vertreiben mir die Zeit, während ich die Mittel einnehme und warte. Oft gehe ich zum Krankenhauspastor und hole den Segen ab, den er so schön rhythmisch spricht: „Gott lasse sein Antlitz leuchten über dir.“

Im folgenden Jahr beginne ich erneut eine Interferon-alfa-Therapie – in hoher Dosierung 3×10 Mio. Einheiten in der Woche – und bei Ärzten, die mir erstmals nach zehn Jahren wirklich helfen: Professor B. und Professor G. Sie arbeiten präzise, schauen den Patienten an, verändern Uhr- und Tageszeiten je nachdem, wie ich auf das Medikament anspreche. Die Nebenwirkungen sind beinahe unerträglich. Im vierten Monat kann ich mit letzter Kraft wieder arbeiten.

Die Therapie laugt mich völlig aus. Grippe, hohes Fieber, Schüttelfrost, Depressionen. Ganzkörpereinsatz mit 33 Jahren.
Das HBeAg wird ein Jahr nach Ende der zweiten Interferon-Therapie negativ. Die Virenreplikation verschwindet unter die Nachweisgrenze. Dort bleibt sie. Acht Jahre lang. „Es ist ein Waffenstillstand – es ist noch kein Friedensvertrag!“

Acht Jahre, in denen mein Berufs- und mein Privatleben in den Vordergrund treten dürfen. Ich wünsche mir ein Kind. Mit der natürlichen Immunsuppression einer Schwangerschaft kommt das HBV-Virus wieder hervor, erst langsam, dann heftiger und setzt seine Zerstörungsarbeit an meiner Leber fort. Die HBV-DNA ist wieder am Drücker und ich fange von vorne an. Immunsystem, bitte lass mich nicht im Stich!

Ich danke Gott für meine gesunde Tochter, die sofort nach der Kaiserschnitt-Entbindung passiv und aktiv geimpft wurde. Jetzt habe ich eine neue Aufgabe: ein Kind erziehen, das heißt, ich sollte noch zwanzig, besser noch vierzig Jahre lang halten.

Ich habe gerade mit einer Mikroimmuntherapie begonnen. Interferon in homöopathisierter Form. Wenn das das Virus nicht überlistet, weiß ich auch nicht mehr weiter. Es scheint doch schlauer als wir Menschen. Oder zum dritten Mal die Rosskur Interferon alfa? Oder ein Leben lang Tabletten, unter denen sich Resistenzen bilden?

Aber: „What´s wrong with five years?“ Lieber Professor H., ich habe mir 20 Jahre genommen, ist das in Ordnung, und ich optioniere weitere 60, denn ich will in jedem Fall so alt werden wie meine hundertjährige Oma!!

Lilly Rost, 45 Jahre
Lilly-Rost@gmx.de
[Anm. der Red.: Der Name ist ein Pseudonym.]

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