Autoimmune Hepatitis: Inklusion bleibt eine Utopie – und ich verstehe es irgendwie.
Dezember 2022. Ein Sprichwort besagt: Gesundheit ist eine Krone auf den Häuptern der Gesunden, die nur die Kranken sehen können. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, wie mein Leben wäre, wenn ich nicht immer so um alles kämpfen müsste – wenn ich nicht (so) krank wäre. Wenn ich nicht so viele Nachteile auszugleichen hätte. Was die meisten Gesunden nicht wissen – krank sein macht auch arm … und einsam. Ich bin nicht nur weniger arbeitsfähig, sondern auch weniger fähig, an einem gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Viele Gesunde verstehen es – aber nur kurzzeitig. Dann fangen sie an, es zu vergessen oder sie werden ungeduldig, fragen, wann es mir denn besser ginge, weil sie nicht verstehen, dass niemals eben niemals heißt. Und dass eine lebenslange chronische Erkrankung eben lebenslang bleibt. Gleichzeitig entferne ich mich emotional oft weiter von den Gesunden, weil mich vollkommen andere Alltagsfragen umtreiben. Bei mir geht es nicht darum, ob ich morgen ein Arm- oder ein Bein-Workout machen soll oder ob ich am Wochenende zu dem neuen libanesischen Restaurant möchte oder lieber in eine Bar. Bei mir geht es darum, dass der nächste Labortermin entscheidet, dass ich mal wieder ins Krankenhaus muss, dass meine Erkrankungen darüber entscheiden, ob ich in meinem Leben jemals das Glück haben werde, Mutter zu sein, dass der Erfolg meiner Osteoporose-Behandlung darüber entscheidet, ob ich mir in einigen Jahren einen hübschen Rollstuhl aussuchen muss. Es kommen Tage, an denen mich Duschen anstrengt und der Wocheneinkauf im Supermarkt mich an meine Grenzen bringt. Natürlich gibt es auch Tage, in denen ich fast ein normales Leben führe und keiner sieht, dass ich schwer krank bin.
Doch ich bin nicht mehr so belastbar, nicht so ausdauernd, manchmal fällt sogar einfaches Denken schwer, von körperlicher Arbeit ganz zu schweigen. Das macht mich auch nicht zu einem gefragten Arbeitnehmer. Mittlerweile habe ich das Glück, einen wunderbaren Arbeitgeber zu haben, der mich dabei unterstützt, so viel zu arbeiten, wie ich kann (und ich arbeite sehr gerne) und nicht mehr nimmt, als ich mit meiner maximalen Anstrengung geben kann. Das war nicht immer so. Vor einigen Jahren hatte ich mal eine Arbeitsstelle, auf der ich auch gerne gearbeitet habe. Ich hatte eine mündliche Zusage für die Verlängerung der Stelle. Dann wurde ich wegen einem akuten Schub der AIH ins Krankenhaus eingeliefert und musste 14 Tage bleiben. Ich informierte meinen Arbeitgeber – ehrlich und naiv. Bisher war mein Arbeitgeber fürsorglich erschienen. Noch während ich im Krankenhaus lag, brachte mein Mann mir den Umschlag mit dem Brief, in dem man mir mitteilte, dass man von einer Vertragsverlängerung zurücktrete. Einen Monat später konnte ich vom Krankenbett in die Arbeitslosigkeit spazieren. Auch wenn mein jetziger Arbeitgeber absolut fantastisch ist, immer wenn ich länger krank bin oder eine Vertragsverlängerung ansteht, erwarte ich, dass ich entlassen werde. Nun, mein Schwerbehindertenstatus räumt mir etwas mehr Urlaub ein – den verwende ich meist für Arzttermine. Es sind so viele Termine bei Ärzten, Laboren, Therapeuten, Osteopathen, dass ich mich schuldig fühle, wenn ich Arbeitszeit für meine Arzttermine verwenden würde. Ich weiß, dass das eine fehlerhafte Überlegung ist, denn ich bin ja durch meine Erkrankung bereits benachteiligt und so benachteilige ich mich auch noch selbst, indem ich meine „Urlaubs“tage mit Arztterminen statt am Strand verbringe.
Natürlich kann ich nicht Vollzeit arbeiten, denn dafür fehlt mir die Kraft. Das bedeutet wiederum, dass ich weniger Geld verdiene. Dabei bräuchte ich das Geld: beispielsweise für die Medikamentenzuzahlungen und Therapien, die die gesetzliche Krankenversicherung nicht zahlt, und für das Benzin und die Parkgebühren, die ich in jeder Woche meines Lebens bei den Arztbesuchen lasse. Und so dreht sich die Spirale – ich merke, dass ich im wirtschaftlichen Sinn einfach nicht den gleichen Wert habe wie jemand Gesundes – und ich muss mir selbst immer und immer und immer wieder sagen, dass das nicht bedeutet, dass ich als Mensch weniger Wert bin. Oft geht es mir schlecht und ich sollte zu Hause bleiben, oder darum bitten, im Homeoffice arbeiten zu können, um mich mittags kurz hinlegen zu können und meine Arbeitsstunden nach meinen Arztterminen auszurichten. Drei Jahre habe ich gebraucht, um all meinen Mut zusammenzunehmen und das von meinem Arbeitsgeber zu erbitten. Zu groß war meine Angst, dass meine Arbeitgeber irgendwann keine Lust mehr hätten, meine sämtlichen Extrabedürfnisse zu unterstützen und mir kündigen würde. Meine Vorgesetzte schaute mich bei dem Gespräch zur Teilnahme am mobilen Arbeiten irritiert an und sagte nur, dass es doch selbstverständlich sei, dass ich einen Teil meiner Arbeit im Homeoffice verrichten könne. Zugleich sagt sie mir oft, dass es sie traurig stimme, wenn sie daran denke, wie ich vor vielen Jahren war, als ich noch „heil“ gewesen sei. Und dass sie sich frage, wie ich das alles aushalte. In der Woche danach wurde mein Homeoffice-Antrag genehmigt und es gibt sogar einen Dienstlaptop für mich. Also kurzum, ich habe einen wunderbaren Arbeitgeber. Das alles scheint mir sogar zuzustehen und doch befürchte ich, während ich in meine erste Woche Homeoffice überhaupt starte, dass ich aufwache und es nur ein Traum war.
Krank sein macht eben auch unsicher und manchmal traurig. Es hilft auch nicht, wenn manche Menschen dann sticheln und Kollegen Witze darüber machen, dass ich mich „ständig zu Hause ausruhe“, wenn ich krank bin oder ich es mir auf Betriebskosten „zu Hause gemütlich mache“, wenn ich ins Homeoffice gehe und ich „keine Lust auf Kistentragen“ habe, wenn ich wegen eines Ermüdungsbruchs eine Zeit lang wieder keine Kisten mit archäologischen Funden tragen kann. Solche Aussagen mögen witzig gemeint sein, tun mir aber oft weh. Dagegen etwas zu sagen, lässt mich empfindlich wirken – also sage ich oft nichts.
Apropos Arbeit: Arbeit endet ja nicht am Arbeitsplatz. Für mich ist auch Hausarbeit immer ein großes Problem. Der Hausputz war früher in zwei Stündchen erledigt. Jetzt habe ich an manchen Tagen nach langen Stunden im Job und Arztterminen nicht mal genug Kraft zu saugen. Eine Haushaltshilfe kostet aber wiederum Geld, Geld, das wir nicht haben.
Es gibt Elemente in unserem deutschen Sozialstaat, die das Problem der Ungleichheit ausmerzen sollen. Aber in der Realität sieht das oft anders aus und Schwerkranke müssen sich in ihrem schon angegriffenen Zustand dann auch noch mit der Kleinlichkeit der Bürokratie herumschlagen – Ärzte beknien, doch bitte endlich das geforderte Gutachten zu schreiben, Versorgungsamtmitarbeiter belagern und sich sinnlose Paragraphen erklären lassen, die einzig ersonnen scheinen, um Antragsteller fernzuhalten. Als wollte jeder, der einen Antrag zu einem Grad der Behinderung (GdB) stellt, den Staat berauben. Lachhafte gefühlte drei Euro Pauschale für die Steuer, die nicht mal die Zuzahlungen für die Medikamente für das Jahr ausgleichen und ein, zwei Tage mehr Urlaub, die nicht mal die Tage abdecken können, die man im Gegensatz zu Gesunden benötigt, um sich zu erholen, wenn man wie so oft am Ende der physischen Kräfte angekommen ist und um zu weit entfernten Ärzten zu fahren, die eine Fachbehandlung anbieten, die das Leben vielleicht erträglicher machen kann. Man wird behandelt, als wolle man sich vor der Arbeit drücken – weil ja die Berufsunfähigkeit so erstrebenswert ist und nicht wie in der Realität ein Leben am absoluten Existenzminimum. Als wären alle Erkrankungen, die man hat, nicht schlimm genug, um mit einem GdB in entsprechender Höhe gewürdigt zu werden, als wäre es nicht schlimm genug, dass man eines Tages krank aufwacht und nie wieder einen normalen Alltag erleben wird. Häufig kommen so zu den physischen auch psychische Probleme, die sich eben einstellen, wenn ein eben noch gesunder Mensch sich damit abfinden muss, dass sämtliche Vorhaben seines Lebens sich in der Sekunde der Diagnose aufgelöst haben. Für die älteren Patienten schon schlimm genug, aber was ist mit uns jungen Betroffenen… wir hatten keine Chance, eine Karriere aufzubauen, etwas anzusparen, eine Familie zu gründen, bevor wir aufs Abstellgleis der Gesellschaft gestellt wurden und so oft den Blick ertragen mussten, der sagt, „sollen doch froh sein, dass sie leben und nicht auch noch Ansprüche stellen“. Dabei vergessen die Absender dieses Blickes, dass es einen Unterschied gibt zwischen Überleben und Leben.
Ich selbst habe eine autoimmune Hepatitis und eine chronische Darmerkrankung (dazu kommen viele, viele Begleiterscheinungen), und meine beiden besten Freundinnen leiden ebenfalls unter chronischen Erkrankungen. Als wir uns vor langen Jahren kennenlernten, waren wir alle noch gesund. Wir hatten noch keine Erkrankungen und keinen Behindertenstatus. Nachdem uns dann unsere Erkrankungen zuflogen, stellten wir etwas fest: In unserer heutigen Gesellschaft ist es leider immer noch ein ausgesprochen großer Makel, behindert zu sein. Behindert und eine Frau zu sein, ist oft noch viel schlimmer. An dieser Stelle möchte ich einige unserer Erfahrungen aus einer allgemeinen Perspektive schildern, die zeigen, dass Inklusion allzu oft nur eine Worthülse ist. Es geht dabei nicht um Bahnhöfe ohne Aufzüge oder Restaurants ohne Rollstuhlrampen – es geht um die feinen, kleinen, fiesen Unterschiede, die unser Leben nicht „normal“ sein lassen. Ein Arzt an meiner Klinik sagt immer, „Sie sind doch normale Menschen“, wenn Patienten mit chronischen Erkrankungen ihn nach bestimmten Dingen fragen, die sie im Unterschied zu „normalen Menschen“ zu beachten hätten. Das Traurige daran ist: Wir sind keine normalen Menschen – wir sind krank und behindert. Und man lässt uns so oft spüren, dass wir keine normalen Menschen sind, dass uns das längst in Fleisch und Blut übergegangen ist. Bei Behörden, bei Ärzten, bei Arbeitgebern, bei Terminen und Projektvergaben werden wir nicht als normale Menschen behandelt. Wir sind anders und passen nicht. Nicht unbedingt immer, weil man uns vorsätzlich ausschließen möchte, sondern weil all diese Leute Angst davor haben, was passiert, wenn sie sich auf uns einlassen. Was, wenn man der Behinderten einen Job gibt? Die ist doch bestimmt ständig krank und kann nicht alles und dann hat man Einbußen… lieber nicht drauf ankommen lassen… und wenn doch, dann lieber das Gehalt etwas geringer einstufen, damit die Einbußen nicht so groß sind. Was, wenn man der Behinderten das wichtige Projekt von dem bedeutenden Kunden anvertraut? Die fällt doch bestimmt ständig aus, weil sie krank ist und ist unzuverlässig, weil es ihr dann vielleicht nicht gut geht. Lieber nicht drauf ankommen lassen. Und jeder von uns chronisch Kranken und ausgewiesenen Behinderten kennt sie, diese tollen Fragen in jedem wichtigen Gespräch: „Wie beeinträchtigt Sie denn Ihre Erkrankung?“ „Was können Sie denn alles nicht?“ „Da haben Sie bestimmt sehr viele Einschränkungen?“ Fragen, die eigentlich nicht gestellt werden dürften, die aber dennoch gestellt werden. Natürlich müssten wir sie nicht beantworten, doch wenn die Fragen gestellt sind, ist es im Grunde egal, ob beantwortet oder nicht. Das Urteil steht im Raum. Ja – wir haben Einschränkungen und leben leider nicht auf der einfachen Seite des Lebens! Aber es lohnt sich, uns nicht auszuschließen! Die meisten von uns sind aufgrund ihrer Erkrankung und der damit einhergehenden Notwendigkeit von Besuchen bei Ärzten, Apotheken, Ämtern etc. sehr organisiert, Meister der Improvisation, und uns haut meist nichts so schnell um, da wir einen anspruchsvollen Alltag gewohnt sind. Wir sind sensibel für unsere Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer und können unsere Kräfte perfekt fokussieren und einsetzen. Natürlich sind Krankheitstage zu verbuchen, deshalb können wir mit den regulären Tagen weit mehr anfangen, als die meisten gesunden Arbeitnehmer. Wir sind nicht unsere Erkrankung und wir sind nicht unsere Behinderung, und wir möchten auch gerne nicht so behandelt werden!
Alle Welt redet ständig von Inklusion und wir ertappen uns manchmal dabei, dieses Gerede für bare Münze zu nehmen. Und dann sitzen wir wieder bei einem Termin und hören uns eine Stunde lang an, warum wir nicht infrage kommen… „Wir wollen nicht, dass Ihre Erkrankung durch den potentiellen Stress durch das wichtige Projekt schlimmer wird.“ „Ein Pflegekind wäre ein Störfaktor für Ihr gesundheitliches Gleichgewicht.“ „Der Posten wäre bestimmt ein Risiko für Ihre Gesundheit.“ Und (fast) jedes Gespräch endet auch immer gleich… man entscheidet sich (natürlich nur zu unserem Wohl) gegen uns. Und das Schlimme daran ist, nach einigen solcher Erfahrungen erwarten wir auch nichts anderes mehr. Und fast glauben wir dann selbst, dass wir nicht wert sind, teilzuhaben. Wir sitzen da, hören uns das Worthülsengestapel an, warum wir nicht infrage kommen, und nicken. Wir widersprechen nicht, denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich das nicht lohnt. Jede noch so überzeugende Rede und jeder noch so erfolgreiche und erfüllte Lebenslauf kommen nicht an gegen die Vorurteile und die Angst der Menschen, die nicht wissen wollen, dass wir nicht nur teilhaben wollen, sondern auch teilhaben können!
Allein die Tatsache, wie verblüfft und unendlich dankbar wir sind, wenn beispielsweise ein Arzt unsere Erkrankung kennt, uns zuhört und auf Augenhöhe über produktive Beiträge zu unserem Alltag spricht – ganz so, als wären wir normale Menschen mit einem selbstbestimmten Leben voller Arbeit, Hobbys, sozialen Kontakten und Wünschen jenseits unserer Erkrankungen – allein diese Freude und Dankbarkeit gegenüber einem Gesprächspartner, der uns als mündige und produktive Personen auffasst, zeigt, was für ein unendlich weiter Weg noch zu gehen ist, bevor so etwas wie Inklusion chronisch Kranker und Behinderter im Ansatz Realität wird. Weil Inklusion nicht in bei der Rollstuhlrampe anfängt, sondern bei dem Wunsch und dem Willen und der Tat, die Person im Rollstuhl zu den anderen in den Bus zu setzen, auch wenn keine Rampe da ist.
Dr. Johanna Ritter-Burkert
AIH und chronische Darmerkrankung
Oktober 2021. Meine Geschichte beginnt vor sechs Jahren. Da bekam ich eine chronische Darmerkrankung. Die Diagnose war langwierig und kompliziert. Am Ende wog ich nur noch 40 kg und lag im Krankenhaus zur künstlichen Ernährung über die Vene. Ein Teil meiner Dissertation in Archäologie entstand dort. Nach der Diagnose kollagene Colitis habe ich mich mit Unterstützung und der richtigen Medikation zurück gekämpft. Bei 50 kg meinte mein betreuender Arzt, jetzt müsse gefeiert werden. Immer an meiner Seite meine besorgte Familie und mein Mann, der mich mit Liebe und Sarkasmus umsorgt. Geheiratet haben wir mitten in dieser schwierigen Zeit. Zusammen – egal was kommt. Nach und nach ging es mir besser. Die Publikation meiner Dissertation und meinen Lebensunterhalt nach dem Studium habe ich mir finanziert, indem ich noch zwei medizinische Ausbildungen parallel absolvierte. Ich hatte wieder meine alte Energie zurück. Sogar meinen heißgeliebten Sport Karate konnte ich wieder ausüben.
Dann der nächste Schicksalsschlag. Irgendwie war ich plötzlich immer unendlich müde. In meiner Mittagspause legte ich mich in die Ecke des Büros in der Praxis, in der ich arbeitete in einen Schlafsack. Oft war ich während allem unkonzentriert. Stress dachte ich. Ab und zu hatte ich Druck im Oberbauch, musste von der Arbeit nach Hause, weil ich dadurch plötzliches Erbrechen bekam. Und dazu noch teils unerträgliches Hautjucken. Mehrfach waren plötzlich meine Oberarme und Oberschenkel voller Quaddeln. Nesselsucht. Irgendwas Allergisches, dachten die Ärzte.
Mein Hausarzt ließ schließlich eine umfassende Blutuntersuchung machen. Die Leberwerte waren erhöht. Noch nicht dramatisch. Also Kontrolle in 3 Wochen. Einen Tag vor einer schriftlichen Prüfung war die erneute Blutentnahme. Da war ich schon sehr schlapp. Konzentration? Fehlanzeige. An manche Teile der fünfstündigen Prüfung kann ich mich nicht mehr erinnern. Hauptsache geschafft. Erst mal heim. Schlafen. Am nächsten Morgen im Zug auf dem Weg zur Arbeit. Mein Hausarzt rief mich an. Die Leberwerte waren enorm hoch. Ich solle aus dem Zug aussteigen an der nächsten Station. Zur Praxis kommen und von dort direkt ins Krankenhaus eingeliefert werden. Noch an diesem Tag wurden meine Haut und Augen gelb, der Urin braun, der Stuhl weiß.
Eine Woche im Krankenhaus und einige Untersuchungen inklusive Biopsie später war klar: Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Autoimmunhepatitis. Am Anfang sah es gar nicht so schlecht aus. Die Leber sprach gut an. Ich dachte, dass bekomme ich auch noch hin. Hab ja schon Übung im Kämpfen. Dann zeigte sich, dass die Erkrankung gerne macht, was sie will. Stabilität? Fehlanzeige. Immer wieder Medikamente hochsetzen. Prednisolon. Azathioprin. Budesonid. Und ein Strauß voll Pillen gegen die Nebenwirkungen. Vom Prednisolon und den Umständen – darunter auch der erfolglose Kinderwunsch – wurde ich depressiv. Also Antidepressiva. Eisenmangel, Hormonschwankungen, Hautinfektionen. Ich bekam Kortisonakne und Rosacea. Also jeden Tag intensiv drum kümmern und regelmäßig zum Hautarzt. Wassereinlagerungen und massive Gewichtszunahme. 35 kg! Trotz Lymphdrainage, angepasster Ernährung und Medizinischer Trainingstherapie. Also immer größere Klamotten kaufen. Aber wie mein Arzt sagt – lieber etwas dick, als tot. Ich brauche die Medikamente eben. Gelenkschmerzen begleiten mich oft. Vom Azathioprin bekam ich Haarausfall. Also trage ich jetzt einen frechen Undercut. Als sollte es so sein, besser ein rebellischer Schnitt als die drei verbliebenen Haare albern drapieren.
Trotz Osteoporose-Prophylaxe sind die Knochen auch nicht mehr das, was sie mal waren. Vier Knochenbrüche in 12 Monaten ist der aktuelle Rekord. Also regelmäßig Physiotherapie und zum Orthopäden. Durch die hohen Kortison-Dosen sind auch die Muskeln nicht mehr so belastbar und machten schon mal in den unpassendsten Momenten schlapp – an einem schönen Sonntagvormittag wollte ich etwas vom Boden aufheben, meine Beinmuskulatur entschied sich, sich nicht daran zu beteiligen und ich fiel Gesicht voran von der Couch und lag da wie ein Opossum in Todesstarre. Zumindest sorgt die AIH so für die ein oder andere lustige Anekdote.
Durch die Medikamente hat sich meine Leber nun zusätzlich zu einer Fettleber entwickelt – Ironie der Medizin. Ich bin sehr therapietreu und immer darum bemüht, dass meine AIH gut eingestellt ist, die Schübe gut ausgeglichen werden und ich nichts versäume. Natürlich ist das kraft- und zeitraubend, aber das ist nun eben mein Leben. Die AIH ist quasi ein besonderes nerviges Haustier, das das richtige Gleichgewicht aus stoischem Dagegenhalten und hingebungsvollem Kümmern benötigt. Zu meinem Glück habe ich neben einer sehr guten Hepatologin einen hervorragenden Hausarzt, der durch seine langjährige Arbeit als internistischer Oberarzt über einen großen Erfahrungsschatz verfügt. Er hat immer das Ganze im Blick, statt nur in seinem fachlichen Eckchen zu kehren. Ich schätze seine positive und empathische Art – er flickt mich so gut es geht zusammen, damit ich möglichst alltagstauglich weitermachen kann, bis die langersehnte Facharztuntersuchung endlich naht. Er weiß, wann er mich ab und zu mal „überreden“ muss, zuhause zu bleiben, wenn es mir ganz furchtbar geht und ich es nur nicht eingestehen möchte.
Meinen Lieblingssport Karate kann ich nach 15 Jahren nicht mehr ausüben. Wenn ich meinen Gi anzog und meine blanken Füße den Boden berührten, war nur die Erwartung von Training und Kampf wichtig. Dieses Gefühl vermisse ich unendlich. Ich muss mich jetzt viel ausruhen – gar nicht mein Fall, aber ich übe mich darin. Ich habe außerdem als Sportschütze ein neues Hobby gefunden. Ich besuche zudem ein spezielles Fitnesscenter mit Ernährungsprogramm, wo ich trainiere, um mich möglichst in (wenn krankheitsbedingt auch nur mäßiger) Form zu halten und die Muskeln zu stärken.
Außerdem habe ich das Tätowieren für mich entdeckt. Ich wollte schon im Alter von 16 ein Tattoo. Ich nahm mir vor – nach dem Abi. Dann dachte ich – was, wenn potentielle Arbeitgeber davon verschreckt würden. Ich sagte mir: „Später“. Als ich dann abgemagert und schwer krank in der Klinik lag, kam mir der Gedanke… „was, wenn es kein Später gibt?“. Mein erstes Tattoo folgte. Jeder schlimmen Zeit folgt nun eine kleine Erweiterung des Tattoos. Es erzählt meine Geschichte. Sagt, dass Schmerz bedeutet, zu leben. Und dass Leiden bedeutet, es ertragen zu können. Mittlerweile habe ich sogar selbst Tätowieren gelernt.
Im medizinischen Bereich kann ich nicht mehr arbeiten – für den fordernden Dienst mangelt es mir einfach an Kraft. Es fehlt mir sehr, mich ins Getümmel zu stürzen. Wenn ich jetzt im Rettungswagen fahre, dann als Patient. In meinem Job als Archäologin nahm ich früher jede Gelegenheit wahr, im Ausland zu arbeiten. Meist den ganzen Sommer unterwegs – wochenlang, monatelang. Das geht jetzt nicht mehr. Schon eine Woche Urlaub an der See bedarf präziser Überlegungen – Arzttermine, Blutentnahmen, Physio… das muss sorgfältig drumherum geplant werden.
Meine Arbeit als Archäologin übe ich nun also ausschließlich am Schreibtisch aus. Das macht auch sehr viel Spaß. Ich versuche, selten auf der Arbeit zu fehlen, aber die vielen Arzttermine und häufigen Zipperlein ermöglichen das nicht immer. Für einiges mangelt es mir mittlerweile auch schlicht an Konzentration – nebenbei noch brillante Vorträge und Forschungsbeiträge verfassen, dafür fehlt meinem Hirn das Durchhaltevermögen. Eine Nebenerscheinung der Medikamente. Also schreibe ich nun lieber kleine, farbenfrohe Fachbeiträge und lasse die meisten Tagungen sausen. Von meinen Kollegen erfahre ich meist Unterstützung – nur manchmal muss ich sie daran erinnern, dass mein dynamisches Auftreten, mein sarkastisches Wesen und mein verschmitztes Lächeln darüber hinwegtäuschen, dass ich nicht mehr so belastbar bin wie früher. Sowohl äußerlich, als auch innerlich bin ich nicht mehr dieselbe. Wer weiß, was die Zukunft bringt. Die AIH hat mich jedenfalls gelehrt, keine verbissenen und unendlich langfristigen Pläne mehr zu machen, sondern zu nehmen, was kommt. Das Schlimmste erwarten, das Beste draus machen und bis zum Letzten auskosten!
Dr. Johanna Ritter-Burkert
33 Jahre alt
Mit AIH und chronischer Darmerkrankung durch Dick und Dünn. Links: 2014 in Caesarea, Israel mit Normalgewicht (55 kg). Mitte: 2016 in der archäologischen Sammlung in Münster mit Untergewicht (40 kg). Rechts: 2020 vor dem Schloss Schwerin mit Übergewicht durch Cortison (80 kg).